Edition 5 Erstfeld

Das Multiple im digitalen Zeitalter

Walter Benjamin beschreibt in seinem Essay über die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken nicht nur die Faszination an der Echtheit und Aura des Originals, sondern auch die Faszination, dass etwas technisch reproduzierbar ist und immer noch einen künstlerischen Wert als Ware besitzen kann. Kunstwerke seien grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen, schreibt Benjamin. Nur die technische Fertigung und die Reproduktionsgeschwindigkeit hätten sich verändert.

Der Künstler im Zeitalter der concept art hat Werke der Kunst industriell fertigen und in limitierten Auflagen als Multiple herstellen lassen. Die Entmaterialisierung von Kunstwerken bringt es mit sich, dass das Original des Gedankens, der Idee die höchsten Werte auf sich vereint und dass die Realisierung in äusserlich gleichwertigen und mit einer Unterschrift des Künstlers versehenen Objekten bereits einen Wert bilden kann.

Das Multiple stellt somit einen besondern Gegenstand dar. Es ist ein Original in Serie, wie die Erfinder von berühmten Editionen – so Daniel Spoerri und Karl Gerstner – es bezeichnen. (Über die Kabbalistik der Editionsauflagen zu sinnieren, wäre ein ganz anderes Vorhaben. Es ist aber nicht zu übersehen, dass eine auch handwerklich herstellbare Anzahl von fünf und drei Stücken auffallend häufig bei Editionen auftaucht). Zudem nehmen sich viele Künstler für Multiples die Freiheit, mit einem kleinen Zeichen, mit einer kleinen Geste jedes Stück einer Edition unverwechselbar zu machen, es zu originalisieren.

Heute erfahren wir täglich, dass das Kopieren per Knopfdruck erfolgt und dass das Reproduzieren ein Kinderspiel ist. Damit beschäftigt, etwas von einem File auf ein anderes zu kopieren, Daten und Informationen über Kopiervorgänge weiterzugeben, hat die Kopie im digitalen Zeitalter ihre Schändlichkeit verloren.

Das Multiple im digitalen Zeitalter müsste eigentlich von der Radikalität und Schnelligkeit des Kopierens fasziniert sein. Es könnte danach trachten, sich in unendlichen Auflagen zu produzieren. Oder der Künstler könnte eine Idee für einen noch schnelleren Kopiervorgang schaffen und diesen dann im Sinne des Multiple limitieren. Das Multiple im digitalen Zeitalter: neue Herausforderungen stehen an.

Sibylle Omlin, April 2004