Edition 5 Erstfeld

Stell dir vor

Stell dir das Zen-Fragment einer Landschaft der deutschen Schweiz vor: Am Ende eines Tunnels ohne Ende (Hugo Suter 1998), zwischen Luzern und dem St. Gotthard patrouilliert ein kleines Polizeiauto in der kleinen Hauptstrasse (Roman Signer 1998) eines kleinen gemütlichen Dorfes. Stell dir jetzt ein kleines Chalet vor, das auf einem kleinen polychromen Regal steht (Hans-Peter Kistler 1999), eine kleine Kuh, Stil Pop (Fritz Müller 1999) und zwei kleine weisse Nashörner (Stefan Banz 2000), die nicht weit auseinander gemütlich weiden, eine kleine weisse Kerze in einem kleinen weissen Glasröhrchen (Roman Signer 2006), das sich zugleich auf eine Neonlampe und das Jahrhundert der Aufklärung bezieht, ein zweites kleines Rohr aber leer diesmal (Thomas Müllenbach 2001), das als Vase, Reagenzglas, Säule usw. benutzt werden kann.

Das Dorf heisst Erstfeld. Die Hauptstrasse heisst Gotthardstrasse. Es ist hier, Nummer 132, wo Ruth und Jürg Nyffeler, die Gründer von Edition 5, aufgeklärte zeitgenössische Kunstsammler, wohnen. Nachdem man seinen Gürtel zugeschnallt hat (L/B 2006) und in eine Sportjacke geschlüpft ist (L/B 2003), kann man in das kleine Chalet eintreten. Der Besucher kann, nachdem er von der Präsenz eines Schildes Notiz genommen hat, das eine explosive Zone anzeigt (Roman Signer 2003), auf einen Holztisch oder auf eine Holzbank klettern (Tadashi Kawamata 2004 und 2006) oder sich im Enterhakenwerfen trainieren (Fabrice Gygi 2006) – oder einen Merzbau, der von unten bis oben aus einem Quadrat Fussboden besteht (Olivier Mosset 2003), einen Zylinder aus Beton (Daniel Göttin 1999), einen ersten Würfel aus Acrylglas (Ingeborg Lüscher 1995) oder einen zweiten Würfel mit einem kleinen Haufen von Sand (Adriana Stadler 1996) erklimmen.

Auf dem Regal steht ein kleines Chalet (Jean-Luc Manz 1999) – nachdem der Besucher die Türschwelle des Chalets überschritten hat, kann er feststellen, dass es noch andere Regale gibt auf denen viele andere Objekte, andere Kuriositäten liegen, wie zum Beispiel ein Nest (Georg Herold 2000), ein Stein „doré à la feuille“ (Mai-Thu Perret 2006), zwei Kochtöpfe ohne Grund (Aldo Walker 1998), ein Duschset in Sichtverpackung (Klat 1999), ein Rahmen ohne Kunstwerk (Thomas Müllenbach 2002), eine „leere Leinwand“ ohne Rahmen (Francis Baudevin 2006), zwei siamesische Kuchenformen (Aldo Walker 2000), eine Uhr ohne Markierungszeit (René Zäch 2002), goldene Schustereisen und kleine Nägel (San Keller 2004), eine Restaurantquittung (RELAX 2005), eine Sammlung Mode-Magazine, in denen alle Frauen verschleiert sind (Shahram Entekhabi 2005) und eine Pandora-Büchse (Franz Wanner 1994). Alle diejenigen, die die Geschichte voll von Schicksalsschlägen der schönen Pandora, Ehefrau des Epimetheus, Bruder des Prometheus kennen, werden diese Kiste nicht öffnen. Ich hoffe es wenigstens, denn es wäre sehr schade, wenn alles Unglück der Welt auf diese Super-Sammlung von Multiples fallen würde, deren Aura sowohl die Augen von Ruth und Jürg Nyffeler, als auch das Gebiet der Kunst in der Zeit der Vermehrung der Formen, der Werke und künstlerischen Prozesse leuchten lässt.

Karine Vonna, August 2008