Edition 5 Erstfeld

Fünf Belege

RELAX (chiarenza & hauser & co)

Fünf Belege
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Holz MDF, Glas, Papier
31.5 x 23.5 x 7 cm
2005
Fr. 2000.-

Fünf Belege

RELAX (chiarenza & hauser & co)

Holz MDF, Glas, Papier
31.5 x 23.5 x 7 cm
2005
Fr. 2000.-

BELEG, m. testimonium, documentum. belege heissen die zeichen, welche von markmeistern und festgeschwornen unter die grenzsteine gelegt werden, um, da sie von unzerstörbaren stoffen genommen sind, auch der nachwelt ein zeugnis abzugeben. wie solche merkmale den ort und stelle belegen, können auch sonst andere gegenstände einen ausgezeichneten platz bedecken und hervorheben; figürlich sind es die einer sache beigefügten beweise und urkunden (Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 1838 ff.).

Fünf Rechnungen, fein säuberlich montiert, mit den ihnen eigenen Strukturen und Ordnungen. Gemeinsam betrachtet belegen sie fünfmaliges Essen einer kleinen Gruppe von Personen, einmal im Januar und je zweimal im Februar wie im März 2005. Es handelt sich bei den Restaurants jeweils um Lokale, die in Zürich durchaus bekannt sind.

Der vergleichende Blick - der Titel nennt die «Belege», den Plural - offenbart interessante Eigenheiten, Differenzen und Charakteristika, sowohl des einzelnen Dokuments als auch des Konvoluts. Am einfachsten und informativsten gestaltet sich die Rechnung des «Ziegel oh Lac». Sie listet zwar keine einzelnen Posten auf, identifiziert aber dafür die «Auftraggeber», gibt einen Hinweis auf die vermutlich Anwesenden und formuliert die genaue Anzahl der Personen sowie den Zeitpunkt des Essens sprachlich aus: Der «Edition 5» wurde diese Rechnung für ein «Nachtessen für 4 Personen» ausgestellt. Selbstredend handelt es sich um das günstigste Essen, eine Information, welche die Kenner der gastronomischen Szene Zürichs nicht überraschen wird. Dieser Beleg sticht etwas heraus, er legt von dem Anlass, dem Ort und auch über die Anwesenden Zeugnis ab, detaillierte Angaben über die Konsumation sind der Rechnung hingegen nicht zu entnehmen. Die «Kronenhalle» liefert neben der Auflistung von Wasser, Wein, Geschnetzeltem, Kalbsleber und Rumdatteln auch Informationen über das zuständige Servicepersonal: Nr. 28, [Frau oder Herr] Nuray, war am 10. Februar für diese Gäste zuständig, die kurz nach 23 Uhr die Rechnung beglichen haben. Die Ansammlung der Restaurantrechnungen verleitet zu Vermutungen und Spekulationen, die Belege werden zum Ausgangspunkt von Interpretationen: Waren immer dieselben Personen miteinander essen? Welche Verbindung besteht zwischen diesen Menschen? Wem wurde welche Speisenfolge serviert? Birgt diese Gruppe an Dokumenten ein Geheimnis? Hinter der Ebene der Faktizität liegen individuelle Momente verborgen, Zusammenhänge und Situationen, deren Eigenheiten die Belege nicht offenbaren (können).

Abgesehen von diesen kurzweiligen, im Detail erhellenden und teils auch amüsanten Beobachtungen eröffnet diese Ansammlung von Rechnungen aber auch grundlegende Fragen: Was belegen die Restaurantrechnungen genau? Welche Eigenschaften machen sie zu Belegen? Und welcher Interessengruppe dienen sie als Urkunde? Die letzte Frage lässt sich am schnellsten beantworten: Dokumente dieser Art werden in (privaten oder staatlichen) Finanzdiensten, in wirtschaftlichen Zusammenhängen als Zeugnis verwendet. Der mehr oder weniger ausführliche Konsumationsbeleg wird als Beweis für den Konsum, den Tausch von Leistungen (Dienstleistung vs. finanzielle Entschädigung) und auch für den Transfer von Geld akzeptiert. Besonders die Schriftlichkeit des Belegs, die Ziffern und Zeichen, Rubriken und Benennungen, verleihen diesem Stückchen Papier seinen «offiziellen» Status und Nimbus. Letztlich basiert die Anerkennung dieses Papiers, dieser Auflistung auf einer gesellschaftlichen Konvention. Sie gründet auf dem guten Glauben, dass die Personen, die diese Belege vorlegen, auch dazu berechtigt sind - berechtigt, weil anwesend, präsent, Zeugen und Beteiligte der Transaktion, die der Beleg dokumentiert.

Die Arbeit «Fünf Belege» von RELAX verweist auf mehr als auf fünf Abendessen. Sie streift das System von Vertrauen und Anerkennung, die Abmachungen darüber, welches Dokument wirklich ein Beleg ist. Zugleich lenkt die Arbeit den Blick auch auf Fragen der Vermittlung von Lebensumständen. Weitab jeder privaten, mündlichen Berichterstattung über Lebensstationen, die Höhen und Tiefen, Zäsuren und heroischen Momente, existiert ein Bereich der Verschriftlichung und Dokumentation von Lebensabschnitten, der (kontrollierbaren) Leistungen, der eindeutig benennbaren Augenblicke und Offenlegung persönlicher Daten. So wie die fünf Restaurantrechnungen das Wesentliche der Anlässe nicht vermitteln, das Warum und Wie, so bleiben auch Persönlichkeit und Individualität des einzelnen Menschen hinter den Datensammlungen, (behördlichen) Zeugnissen und konfektionalisierten Dokumenten, die im Laufe eines Lebens angesammelt und erstellt werden, verborgen.

Diese Problematik ist nicht neu, in gewisser Weise auch allgegenwärtig. Interessant ist jedoch, dass die KünstlerInnen ihr Nachdenken über diese Systeme, unausgesprochene Vereinbarungen, Konventionen und Rituale nicht an einem kunstimmanenten Phänomen wie der Künstlerbiografie, der Aufzählung von Stipendien, Gastaufenthalten oder Vorträgen, Ausstellungen und Publikationen festmachen - sondern an dem zivilisatorisch bedeutsamen Ereignis des gemeinsamen Essens, des (in kleinem Rahmen stattfindenden) Gastmahls. Zwischen den lapidaren Auflistungen der Speisen und Getränke sowie den Verweisen auf einen bestimmten räumlichen, atmosphärischen Kontext entsteht ein Freiraum, den die BetracherInnen mit Bildern füllen können: mit persönlichen Erinnerungen an den Ort respektive die Speisen, mit Vorstellungen der Tischgespräche, der anwesenden Personen, der Interaktion der kleinen Essensgesellschaft. Das Zeugnishafte der Restaurantrechnung entwickelt unvermittelt ein anregendes, imaginatives Potenzial, als entzünde sich der Funke der Fantasie an dem schmalen Stückchen Papier.

In ihrer Umsetzung als Edition werden die an sich simplen, unprätentiösen Rechnungen aus ihrem ursprünglichen Umfeld herausgelöst, zur Schau gestellt und in den (nobilitierenden) Ausstellungskontext transferiert. Die «Fünf Belege» vermitteln dadurch einige der Facetten von grundlegenden gesellschaftlichen Abmachungen und Bedürfnissen sowie tradierten (juristischen) Vorgehensweisen und Annahmen. Als Artefakte eröffnen sie die Möglichkeit, sich über die Beweiskraft als Beleg hinwegzusetzen und die Leerstellen, die sich aus der rein dokumentierenden, abstrahierten Niederschrift ergeben, mit neuen Inhalten zu füllen. Ob diese aus dem Kontext der Präsentation - dem Kunstkontext - stammen oder aus ganz privaten Bereichen, bleibt bewusst offen. Aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst, eröffnen die «Fünf Belege» Ansatzpunkte für eine individuelle «Geschichtsschreibung», für Deutungen, Konstruktionen und Phantasien - und hinterfragen und relativieren so in gewisser Weise auch ihre Benennung und das damit verknüpfte Denken und Agieren.

Irene Müller